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Reisen Sie gern?
Na, dann sollten sie sich diesen Reisebericht einmal auf der Zunge zergehen lassen. Vielleicht könnten sie sich einen Tee mit ein paar Keksen dazu genehmigen!


Der eiserne Sonntag
(Ansichten eines Reisenden im Ruhrgebiet)

Wenn der Wind ungünstig steht, zieht ein scheußlicher Gestank durch die Straßen. Die schwefel - und eisenhaltige Luft kriecht in jede Fuge der alten Häuser, bahnt sich ihren Weg in die Lungen der Bewohner. Sie zwängt sich durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln, dort wo Tauben gurren, hinein in die Bronchiolen desolater Wohnhäuser und behindert den schläfrigen Atem dieser sonntagnachmittäglichen Welt. Die Luft aller stählernen Tage überlagert den Geruch von frischem Kaffee und versunkenen Kirschen in dickem Hefeteig. Sie gibt hier allen Dingen einen Beigeschmack, den ein Gast verwundert und mit gerümpfter Nase wahrnimmt.
Alles scheint zu husten und zu seufzen unter dem Einfluss der übelriechenden Schwaden, die an ein misslungenes Experiment im Chemieunterricht aus der Schule erinnern. Damals, als der Lehrer es widerwillens vollbracht hatte, eine Stinkbombe von besonderer Art zu kreieren. Damals, als dem Studienrat dieser etwas irre Blick in den tränensackumrahmten Augen gestanden hatte und unsere Kindergesichter vor Schadenfreude erröteten. Eben dieser Geruch verharrt heute abermals in der Luft. Ein wenig drohend liegt er bleischwer im Nachmittag und belegt Millionen Zungen und selbst die salzigen Tränen in den Augenwinkeln lässt er dabei nicht aus.
An diesem Tag geht ein Luftzug so ungünstig wie er nur kann, oder stehen die Fabriken, die der Mensch erbaut hat, unvorteilhaft, vielleicht! Gelblichgraue Rauchschwaden quälen sich in das dicke Herbstgewölk hinein, beten wallend um Einlass in den Himmel, der eh schon ganz düster ist. Die Glocken der nahen Kirchen schweigen, ihr sonntägliches, um Kirchengänger werbendes Geläut ist längst verstummt. Der Himmel schimmert schwarzbraun, schaut aus wie das rostige Eisen, das Tag und Nacht in der Hütte herausgeschmolzen wird.
Es ist, als würden die Wolken in den nächsten Minuten all den Dreck von sich speien wollen. Vielleicht gibt es gelbbraunen Regen, der dann mit rostigem Wasser aus einer himmlischen Schrotthalde zu fallen scheint. Die Industriedünste zügeln den späten Nachmittag zur frühen Nacht und wenn man vom Fußballspiel in der Glotze aufhorcht, hört man das trockene Klappern und Kreischen vom Transportband der Beschickungsanlage.
Hier gibt es auch andere Tage, an denen das Sonnenlicht mit beinahe goldenen Strahlen zaghaft über die rot schimmernden Dächer tastet, über die Dachfirste stolpert, um dann schließlich in die kleinen Gärten zu fallen. Sanft, auf grünen Rasen, der rotberußte Halmspitzen trägt. Die Hagebuttensträucher beugen sich unter der Last dicker Früchte für einen wohlschmeckenden Tee. Wenn die Sonne scheint, ist es hier gar nicht übel. Freilich, das ist nur möglich, wenn die Luft nicht von stinkenden, gerade den Schloten entstiegenen Schwaden geschwängert ist. Wenn das Wetter mitspielt und der Himmel nicht voller Gewölk steht, kann der Beobachter entzückt verfolgen, wie die Sonne sich in den neuen Tag hineinschleicht und hell Besitz von ihm ergreift, trotz der dunklen Fassaden. Bis zum Abend nur, ein kurz währendes Schauspiel, dann kommt wieder die Nacht.
Wenn es dunkel geworden ist, wirken die kreischenden Maschinen und der Ofen wie eine mysteriöse fremde Welt, deren Werk und Wirken die Geschicke der Menschen in dieser Gegend nachhaltig zu beeinflussen drohen. Wenn alles im Dunkel liegt, traut man den Maschinen nicht. Und doch sind sie kaum allein zu später Stunde, wenn die Nacht ihren dunklen Mantel über die Stadt, die Häuser, die Menschen und die Bäume legt. Gearbeitet wird hier rund um die Uhr.
Der Ofen, die Beschickung, die Stranggussanlage, die Stahlkocherei, das Walzwerk, all diese Orte tauchen die Nacht in einen wärmenden rötlichen Schimmer, lassen sie zum heimtückischen Tag werden.
Was ist schon ein Tag in dieser Welt der mechanisch geisterhaften Eintönigkeit. Ein neuer Tag altert schnell, ist kaum gelebt, wird grau und versinkt im Dunkel des ewigen Seins. Hier scheint die Zeit auszuschlacken, damit sie in Stahl gegossen werden kann. Ein Tag wie der Pendelschlag einer Uhr, wie das unruhige Tickern eines Weckers. Hin und hergeworfen, ein ängstlich wabernder Zeitozean, getrieben von Ebbe und Flut, ähnlich dem Puls in unseren Schläfen. Tag und Nacht und wieder Tag und Nacht, gleich dem Schwingen der Unruhe in einer Uhr, die nichts ahnt von einer Zeit. Am Morgen dann, ganz früh, gegen fünf, gibt es ein sanftes aber gemeines Klicken im geräderten Werk. Der Wecker erschaudert innerlich, macht sich gnadenlos zum Anschlagen bereit, zum Angriff auf die kurzweilige Ruhe jenes Menschen, der da mit offenem Mund, leise vor sich hinröchelnd, schlummert. Seine Nerven sind schon ein wenig angespannt, wenn auch der Körper noch schlaff ist, die durchgelegene Matratze wenige Zentimeter schwer über dem Boden hängt. Die Nerven ahnen schon, sie sind bereit, das schrille, traumzerreißende Gehämmer über sich ergehen zu lassen und den Reiz über ein wirres Nervengeflecht zu übermitteln.
Aber, es ist noch nicht soweit, im Moment genießen die Menschen den ruhigen Sonntagnachmittag. Kaffee, Kuchen Schwefel und Ruß haben ihren richtigen Platz gefunden. Zuweilen schaut man auf, wenn sich in der Ferne ein kleiner roter Lichtschein fließend bewegt, sich öffnet, allmählich groß, hellrot und gleißend wird. Der Himmel leuchtet auf, als würden tausend Hexen und Feuergeister erhitzt durch die Lüfte tanzen. Der Schein kommt vom Hochofen herüber und er ist rot und gelb wie das flüssige Eisen selbst. Die Arbeiter am Hochofen machen einen Abstich und ein warmer Schimmer gleitet für einen kurzen Moment über den gedeckten Kaffeetisch.
Einer oder sogar Tausende sind gerade im Begriff, sich auf das Knie zu schlagen. Bruchteile von Sekunden später geht ein enttäuschtes Raunen durch Nachmittag und Stadion, es quillt aus vielen dünnverglasten Fenstern hinaus auf die mit fettigem Ruß belegte Straße. Und dann ist das Wasserwerk überlastet und die Frauen ärgern sich still über die mit Urin bespritzten Toilettenbrillen, wie so oft.
Aus dem Ofen, zunächst noch träge und zäh, tritt das Roheisen zu Tage. Es verlässt den feuerspeienden Giganten, bahnt sich gierig und alles verbrennend seinen Weg durch vorgegrabene Sandbetten. Das jungfräuliche Eisen wälzt sich wie Lava und verzaubert den nahen Abend, lässt so manches Kind einen geheimen Wunsch denken.
Und auch ein Liebespaar steht am murmelnden Fluss, sie sehen das sprühende Feuer, beide verstehen sich wie nie zuvor in diesem Moment der falschen Sternschnuppen. Sie sprechen ihr Geheimnis, ihre Freude nicht aus, weil sie Angst haben, ein Wort könnte diesem Moment etwas anhaben.
Eine Kerze in irgendeinem Haus flackert unruhig nach Luft ringend in den Abend hinein. Neue Kerzen werden entzündet und Abgebrannte erlöschen. Kinder werden geboren, Eltern sterben und vieles und doch nichts ändert sich. Der Ofen muss weiter glosen, das Eisen herausschmelzen, damit blauer Stahl daraus werden kann. Stahl für die Klingen zum rasieren der Männer und Stahl für scharfe Messer, die bitte, bitte nicht Kehlen durchschneiden dürfen. Ja, viel Stahl soll der Ofen schmelzen, jenes blauschimmernde Metall, das zu Gold wird und den Menschen hier Arbeit und ein wenig Wohlstand gibt. Wenn der Stahl gut ist, dann wird er Freude bringen und wenn er in einer Nacht erstarrt, in der die Hunde heulen, so erzählt ein betrunkener Arbeitsloser, dann wird aus dem heißen Zeugs der kalte Tod.
Dieser Kerl macht die Leute verrückt, denken erschrockene Zuhörer, denn er plaudert wirres Zeug. Hin und wieder spricht er sogar von einem Unfall im Werk. An jenem Tag, so berichtet er und vergießt dabei richtige salzige Tränen, hat es fürchterlich nach verbranntem Menschenfleisch gestunken. Die Anderen geben dann immer einen aus in der Kneipe und drehen sich angewidert weg von diesem Spinner, der ja so recht hat. Er schämt sich seiner Tränen schon lang nicht mehr. Er weint sie für die anderen mit.
Irgendwo, dort wo die grünen Lungen sind, sitzt ein alter Mann mit einem buschigen Seehundbart im Gesicht, unter einer riesigen Rotbuche auf der Bank. Er trägt ein kleines Taschenradio in gichtig blaugeäderten Händen. Von Zeit zu Zeit hält er mit seinem asthmatischen Keuchen inne und horcht in den blechern klingenden Lautsprecher hinein. "Tor, Tor, Tor", schallt es und eines Menschen Freude schwillt durch die grüne Lunge. Nach der Freude folgt ein Räuspern, ein Hüsteln, ein ausgewachsener Hustenanfall und mit Glück sogar noch befreiender ausgespiener zäher Schleim. Hübsch in das Gebüsch gespuckt, denn am nächsten Tag werden auf den Wegen erneut Kinder mit Murmeln spielen. Der Alte nimmt wieder seine Schonhaltung ein, damit er besser Luft bekommt, hebt die schmalen Schultern an, dann wartet er auf das nächste Tor von Dortmund oder Duisburg oder von welchem Verein auch immer.
Wenn der Fußball nicht wäre, dann gäbe es an diesem Nachmittag weniger glückliche Gesichter und in den nächsten Tagen kaum Gespräche über Sport, die mit so viel Leidenschaft geführt werden.
An jedem Tage rollen auf stählernen Rädern und Schienen große schwere Blechtrommeln und sogenannte Vorbrammen in die ganze Welt hinaus. Daraus entstehen später Autos, Kühlschränke, Herde, Gartengrillschüsseln, Raketen, Panzer, Bomben und Granaten. Ja, sogar auch Skalpelle und Rollstühle. Dinge für das Leben und auch für den Tod. Einfache Gegenstände für das weitere Leben und allerlei komplizierte Kleinigkeiten für ein wohlüberlegtes Sterben. Eine kleine Gerechtigkeit liegt in diesem Material, das doch so vergänglich ist und in jeder Stahlschmelze ein völlig anderes Gesicht bekommen kann. Heute ein Splitter im Knie, morgen eine Schraube in heilender Hüfte. Und irgendwann vielleicht sogar eine Kugel im Kopf.
Es gibt hier auch viele andere Dinge, schöne Dinge. Zum Beispiel einen herrlichen unvergleichbaren lebendigen Dialekt der Leute, einen Tonfall, der unbearbeitet auf die Bühne muss, weil er prägnant, drollig, frech und in seinen eingebetteten Geschichten ein wenig süchtig machen kann. Die zuweilen kehlig gesprochenen Anekdoten haben schon einigen Besuchern Lachtränen in die gereizten Augen getrieben, Tränen, die dann den Ruß davonschwemmen.
An den Wochenenden und an den schichtfreien Abenden flimmert die Welt unaufhörlich über viele tausend Mattscheiben. Eine zensierte Welt, gezaubert von einem blaßblauen Elektronenstrahl, zwischen verschlossener und wieder aufgeschraubter Thermoskanne.
Es gibt in all den Jahren viele neue Brotdosen, viele neue Thermoskannen mit Aufklebern von Fußballvereinen drauf. Es gibt neue Kinder, die ungefragt in diese Welt der gräulichen Schwaden hineingeboren werden. Diese Kinder sehen ihre Väter mit ausgebeulter Kunstledertasche heimkommen. Sie begrüßen die ausgepumpten Männer, küssen sie auf rußige Wangen und lieben sie so wie sie sind. Manchmal sitzen Kinder, schon im Schlafanzug, ganz nahe beim Vater und bekommen die eine oder andere Gabel vom aufgewärmten Abendessen ab.
Die Kinder wachsen heran, sie gehen zur Schule, lernen oder verweigern, sie geraten oder missraten. Die Jungens werden groß und stark wie ihre Väter und einige von ihnen werden diesen Stadtteil hassen und manche auch lieben lernen. Die Töchter ärgern sich schon recht früh über das neue Kleid, das schon vor dem ersten Tragen mit Ruß befleckt ist.
Und gelegentlich wird ein pubertierender Sohn davon sprechen, dass er, um Himmels Willen, nicht so werden will wie sein versoffener Vater. Und der Vater wird, wenn auch knurrend, ein wenig stolz auf den Mut und die Offenheit seines Sohnes sein, weil er spürt, dass sein Ableger aus dem gleichen Holze ist wie er selbst.
Die Tage der aufgenommenen und abgestellten ausgebeulten Kunstledertaschen werden sich häufen und irgendwann kommen die Söhne mit ihren Rucksäcken, das Ritual wird sich kaum ändern. Die Hütte zieht die Männer hier magisch an, sie ist wie ein Fluch und doch auch ein Segen, so lange die Luft nur schlecht ist.
Am Imbiss gegenüber stehen einige Männer, bartstoppelig, leicht gekrümmt. Drei von ihnen haben pechschwarzes Haar, andere blondes, braunes, graues oder keines. Alle halten eine Flasche Bier in der Hand. Jetzt schiebt die dicke, ständig quasselnde Imbissfrau Currywürste rüber. Hände ergreifen die fettig durchgeweichten Pappunterlagen. Ein Mann isst zu hastig, springt mit schmerzverzerrtem Gesicht von einem Bein auf das Andere, versucht dabei noch zu grinsen, löscht mit Bier. Das Gespräch geht mit kauenden Mündern, wunderbarem Dialekt und herrlichen Anekdoten weiter. Manchmal mischt sich Politik in die Unterhaltung ein. Einer erzählt unvermittelt von dicken Brüsten, die er mit seinen Händen andeutet. Was hat das nur mit Politik zu tun. Ein anderer Mann schaut auf die Uhr und denkt gelassen an seine Frau, die noch immer auf die Schachtel Zigaretten wartet. Der nahende Abend wird mit einer weiteren Lage länglicher Flaschen begrüßt, die Gläser schlagen klickend aneinander, "Prost".
Dieser Tag hat einen eigenartigen Geruch, er riecht nicht nur nach schwefeligen gelben Schwaden, nein, er riecht auch nach Gulasch mit grünen Bohnen und Salzkartoffeln. Damit nicht genug, dieser Tag riecht auch nach gewichstem Treppenhaus, nach parfümierten Frauenwangen, nach Kaffee, Bier, Currywurst, nach Arbeit, nach Schweiß, ja, nach Leben, nach kraftvollem Dasein. Ein Geruch, der erinnert und der nicht vergessen werden will.
Als ich diesen Ort des frechen Dialektes, der vielen Gerüche, des einfachen Lebens und der Thermosflaschen und Brotdosen wieder verlasse, bin ich nachdenklich. Nicht etwa, weil ich traurig bin, nein, ich bin nachdenklich, weil ich diesen Ort unmerklich intensiv in mir aufgenommen habe. Diese Menschen, die ich beobachtete, die Industrie, die niemals ruht, der Sonntag, der so eingebettet lag in dieser Stadt mit dem roten Lichtschein, alles schwingt in mir seltsam, unbekannt und schön nach. Während der Motor meines Wagens ruhig brummt, schaue ich ein wenig wehmütig den Schloten und Stahltürmen nach. Unter mir gleitet schmutzigbraun die Ruhr. In meinen Ohren klingen recht derbe Witze nach, die ich unbedingt meinen Freunden daheim erzählen muss.
Und plötzlich, gerade jetzt, wo ich die Autobahn in Richtung Norden fahre, fängt es zu regnen an. Riesige warme Regentropfen fallen vom Himmel. Unter mir gurgelt immer noch die Ruhr. Jetzt weint die himmlische Schrotthalde. Dieser belustigende Gedanke geht mir durch den Kopf und ich glaube, ich habe sogar eben eine rostige Schraube mit den Regentropfen zusammen zur Erde fallen sehen.
* * *
© B. W. Rahe

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